Predigt zum 6. Januar 2013

„Denn wir haben hier keinen bleibenden Staat, sondern den Kommenden suchen wir.“ (Hebräerbrief 13,14)

Die Gemeinde des Hebräerbriefes lebte in schweren Zeiten. Das sehen wir in dem Rat den der Verfasser des Briefes spricht:

Kümmert euch um alle, die wegen ihres Glaubens gefangen sind. Sorgt für sie wie für euch selbst. Steht denen bei, die verhört und misshandelt werden.
Leidet mit ihnen, als würden die Schläge euch treffen. (11,3)

Für den Verfasser des Briefes sind die täglich gemachten Erfahrungen in dieser Zeit nur durch messianisches Vertrauen auszuhalten. Er sah die Gemeinde in der guten Gesellschaft der Gerechten - die immer vertraut haben - von Abel und Abraham bis zu Gideon, David und den Propheten:

Die Zeit würde mir nicht reichen, wollte ich von Gideon reden, von Barak, Samson, Jiftach, David und von Samuel und den Propheten; sie haben aufgrund des Glaubens Königreiche besiegt, Gerechtigkeit geübt, Verheißungen erlangt, Löwen den Rachen gestopft, Feuersglut gelöscht; sie sind scharfen Schwertern entgangen; sie sind stark geworden, als sie schwach waren; sie sind im Krieg zu Helden geworden und haben feindliche Heere in die Flucht geschlagen. Frauen haben ihre Toten durch Auferstehung zurückerhalten. Einige nahmen die Freilassung nicht an und ließen sich foltern, um eine bessere Auferstehung zu erlangen.
Andere haben Spott und Schläge erduldet, ja sogar Ketten und Kerker. Gesteinigt wurden sie, verbrannt, zersägt, mit dem Schwert umgebracht; sie zogen in Schafspelzen und Ziegenfellen umher, Not leidend, bedrängt, misshandelt. Sie, deren die Welt nicht wert war, irrten umher in Wüsten und Gebirgen, in den Höhlen und Schluchten des Landes. (11,32-38)

Diese Menschen sind die große Wolke von Zeugen die die Gemeinde umgibt. Ihr Zeugnis macht der Gemeinde Mut, weil diese Gerechten Situationen zu meistern hatten, die der Gemeinde noch bevorstehen:

„Ihr habt im Kampf gegen die Verfehlung noch nicht bis aufs Blut widerstanden“ (12,4).

Hier ist ein Wort der Ermutigung das trotzdem die Realität nicht leugnet. Das Wort sollte die Gemeinde zurüsten für all das was auf sie zukommt.
In diesem Zusammenhang ist der Satz:
„Wir haben hier keinen bleibenden Staat, sondern den Kommenden suchen wir“ (13,14)
zu verstehen. Das griechische Wort Polis, normalerweise übersetzt mit Stadt, ist hier besser hier als Staat zu verstehen. Die Stadt war der Ort von dem die Machtpolitik ausging. Der Satz bedeutet politisch: das Römische Reich ist nicht von Dauer, es wird nicht bleiben. Der Sinn der messianischen Gemeinde ist, die Sehnsucht nach einem kommenden Staat – angesichts des nicht bleibenden Römischen Imperiums – vorzuleben. Der damalige Staat der die Welt und die Gemeinde im Würgegriff hatte wird nicht bleiben. Die Gemeinde sucht nach dem Kommenden und lebt ihm entgegen.

Aber die christliche Theologie hat schon ziemlich bald das Politikum dieses Satzes entschärft. Der Text wurde zu einer Vertröstung auf das Jenseits. Dass die neue Lebensordnung, das Reich Gottes, das Jesus verkündigte, auf der Erde Gestalt gewinnen sollte, wurde vergessen. Die Hoffnung für die Erde wurde in den Himmel verlegt. Die Verlegung der Hoffnung in den Himmel wird oftmals verknüpft mit der gepredigten Binsenweisheit, dass alles Leben vergänglich ist. Aber diese Binsenweisheit ist hier gemeint. Es geht hier nicht um die Vergänglichkeit des Lebens, sondern um das Ende des Römischen Reiches.

Die Umdeutung des Textes zu einer Vertröstung auf das Jenseits hob die politische Brisanz der christlichen Religiosität auf. Das Christentum ist dadurch entstanden. Diese Aufhebung der Hoffnung auf Gottes Ordnung auf der Erde wurde durch eine Anpassung an die vorherrschenden Machtverhältnisse begleitet, mit Auswirkungen die bis zum heutigen Tag reichen.
In den 60er und 70er Jahren wurde die westliche Welt aufgeweckt mit dem Aufruf: so kann es nicht weiter gehen. Krieg, Kapitalismus, Konsum, Sexismus, Umweltzerstörung, Armut in der Dritten Welt. Es muss alles ein Ende haben.

Was unsere Geschwister des Anfangs erlebten, was in der Basisgemeinde damals auflebte, war die Überzeugung dass solche biblischen Texte noch politische Brisanz haben könnten. Das die Bibel etwas zu sagen hatte angesichts des zum Himmel schreienden Elends in der Welt. Und dass obwohl die diesseitige Relevanz dieser Texte eingeschlummert war, sie noch aufzuwecken war. Und nicht nur aufzuwecken, sondern zu leben und erleben. Die Bibel wurde mit dem Einsatz des eigenen Lebens ernst genommen.

Das Anliegen von Gerhard, wie ich es verstehe, und der Grund für den Umzug (den Auszug!) nach Wulfshagenerhütten, heute vor 30 Jahren, lag in der Überzeugung, dass die damalige politische Ordnung nicht von Dauer sein konnte, oder sein durfte. Nach einer alternativen Ordnung wurde gesucht. Gerhard nannte diese alternative Ordnung: „Frieden“. In dem Friedenspapier von 1983 schrieb er:

„“Friede” (Schalom) in der Bibel ist jene neue Lebensordnung, in der die Menschen in der rechten und heilenden Beziehung zu Gott, zu ihren Mitmenschen und zur Natur als Schöpfung Gottes leben.“

Für die Umziehenden, die Ausziehenden, die Einziehenden damals war dies ein konkreter Schritt aus diesem Staat, aus dieser Ordnung, die nicht von Dauer sein kann oder sein darf, um einen konkreten Schritt in die kommende Ordnung hineinzuwagen. Wie Gerhard schrieb:

„Wir müssen aus dem System des Besitzens und der Eigengesetzlichkeit des Geldes heraustreten… Wir Christen müssen aus dieser Kultur der Ungerechtigkeit heraustreten und eintreten in die neue Lebensordnung Gottes, die Gerechtigkeit Gottes des Miteinanderteilens.“

Der Umzug, der Auszug, der Einzug - und unser Gemeindesein heute - war und ist die Suche - der Versuch - dieser kommenden Ordnung entgegenzuleben, entgegenzuarbeiten, entgegenzusehnen.

Anthony Gwyther

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