Bericht von Eva Weber-Lück, die bei dem Umzug der Basisgemeinde von Kornwestheim als 13-jährige mit Ihrer Familie in Wulfshagenerhütten ankam.
Es war der 6. Januar 1983, morgens. Ich hatte bei meiner Freundin Stefanie in Kornwestheim übernachtet, zum Abschied. Um spätestens 8.30 Uhr sollte ich „zuhause“ sein, besser gesagt, vor unserem Haus erscheinen. Ein paar wenige Nachbarn und Freunde standen da, verabschiedeten uns unter Tränen. Wir stiegen in die Autos. Es ging los, auf ein fremdes Ziel zu. Es war sehr spannend. Erstaunlicherweise habe ich allen Abschied von Freunden und Verwandten, der sich über Wochen hinzog, ohne Trauer gut überwunden. Wer aus meiner Klasse konnte schon sagen: „Ich ziehe um, und zwar nach Kiel.“ Hört sich doch groß an!
Die Fahrt war sehr lange, die Autos nicht die neuesten und schnellsten. Wir fuhren in drei Autos, die anderen fuhren mit dem Zug. Unser Auto steuerte mein Vater Gerhard und unterwegs auf der Autobahn hatten wir einen Platten. Auch das hatte ich zuvor noch nie erlebt und fand es ein bisschen faszinierend. Nach etwa 11 Stunden Fahrt war es bereits dunkel und auf dem Rücksitz dämmerten wir vor uns hin. Plötzlich rief Gerhard: „Das ist der Nord-Ostsee-Kanal!“ Der Nord-Ostsee-Kanal – neues Land! Gerhard schien begeistert, beglückt, bewegt.
Kurz danach waren wir an unserem Ziel angelangt. Wir stiegen aus und standen auf unserem neuen Gelände. Der erste Eindruck war: Dunkelheit, große leerstehende Gebäude, ein gigantisch hoher Nadelbaum auf dem Rondell und das mir fremde Geräusch sowie der Geruch von mächtigen, herben Windböen. Außerdem das Gefühl, am Ende der Welt zu sein, abgeschieden. Vor uns ragte in die Dunkelheit recht klotzig ein Gutshaus, weiß schimmernd. Das Gebäude neben uns stand langgestreckt da, mit sehr großen, leeren Fenstern. Es sah nicht nach einem Wohnhaus aus. Und zwischen all dem befand sich unser Umzugscontainer. Voll mit unseren Sachen. Das war wie eine kleine Heimatinsel, ein leises Willkommen, hier in diesem überwältigend Neuem.
Ja, ich glaube, wir waren alle überwältigt. Wir standen da und warteten auf jemanden, der uns das Haus aufschließen und zeigen sollte. Schließlich kam Herr Zellhöfer und führte uns in das langgestreckte ehemalige Kinderheim-Wohngebäude. Auf jedem Stock war ein langer, schmaler Flur und endlos viele Türen mit Löchern, Aufklebern und Gekritzel. Es roch nach Spanplatten. Die Zimmer hatten ungewohnt hohe Decken, Einbauschränke aus Spanplatten und alles war äußerst kahl. Ich fragte mich, wann hier wohl zuletzt Kinderheim-Kinder gewohnt hatten. Nun wurde der Container geöffnet, wir holten das Nötigste für unsere Schlafplätze und verteilten uns auf die Räume. Natürlich zunächst vorläufig.
Tilman, Clemens, Jörg und ich begannen noch am selben Abend, unser neues Terrain zu erkunden, gewissermaßen zu erobern. Aber nur den Teil des Geländes, der nicht mehr vom Kinderheim bewohnt wurde. Vor dem anderen Teil hatten wir Respekt, der gehörte gewissermaßen noch nicht uns. Das alte Gutshaus wurde natürlich als erstes von uns angesteuert. Im Spiegelsaal dieses Hauses stand ein riesiges Trampolin. Das war der Fund des Abends. Wir nahmen es gleich voll in Benutzung und der ganze Saal, an dessen Decke teilweise zerrupfte Kronleuchter hingen, füllte sich mit unserem Lachen und Spaß. Da hörten wir plötzlich von draußen durch die Fenster Stimmen von Jungs, die sich uns bemerkbar machen wollten. Sie sangen Popschlager zu uns herein. Wir verkrümelten uns.
Nach der ersten Nacht auf unseren Matratzen folgte ein strahlend heller Morgen mit Sonnenschein - vielleicht war es aber auch schon nach der zweiten Nacht – als ich aufwachte und im Treppenhaus ein sehr fröhliches, nicht enden wollendes Lachen vernahm. Mir war die Stimme unbekannt, und als ich nachschaute, war da eine junge Frau, die mit solcher Selbstverständlichkeit den Besen schwang und dabei laut scherzte, als wäre sie schon lange da. Ich erfuhr somit, dass Gabi und Christoph, zwei junge Menschen, zu uns dazugestoßen sind. Das war eine Überraschung und Ermutigung: Sie stiegen in unser Vorhaben offensichtlich vorbehaltlos und fröhlich mit ein, gestalteten mit.
Überhaupt war das Dazustoßen von Menschen in den kommenden Monaten und Jahren für uns Jugendliche – das waren meine beiden Brüder und ich – ein sehr abwechslungsreiches Erleben. Es kamen sehr viele junge Menschen unterschiedlichster Herkunft und Motivation, viele auch über die Kommunität in Taizé. So haben wir als Jugendliche viel Kontakt gehabt zu jungen Erwachsenen, in ganz unterschiedlicher Gestalt: In gemeinsamen Freizeitaktivitäten, im Feiern der Bunten Abende, im gemeinsamen Arbeiten, bei Radtouren oder einfach im Austausch über alles Mögliche. Aber nun wieder zurück zu den ersten Tagen in Wulfshagenerhütten.
Sehr einprägsam habe ich in Erinnerung, dass das Gemeinschaftsleben nun den ganzen Tageslauf durchzog. Das war eine neue, für mich sehr schöne und spannende Erfahrung. So saßen wir z.B. auch jeden Abend alle zusammen, tauschten uns aus, sangen, spielten,… Das gab mir ein Gefühl der Geborgenheit, die uns die noch so unwirtlichen und weiträumigen Gebäude, das ungewohnte Klima und die Sprache um uns herum nicht geben konnten.
Es kam aber auch das Unvermeidbare auf uns zu: Die Suche nach der für uns passenden Schule. Für mich begann damit ein Leben in zwei Welten. Siegfried und meine Mutter fuhren mit uns los und die Wahl fiel schließlich auf das Gymnasium Kronshagen bei Kiel, da es das einzige Gymnasium mit einer guten Schulbusverbindung war. Von nun an lag täglich ein weiter Schulweg vor uns. Am schlimmsten aber war für mich die Sprache: Norddeutsch, vor dem ich immer schon Ehrfurcht hatte. Ich versuchte in der Schule, meinen Dialekt zu verbergen, indem ich z.B. kaum redete. Obwohl ich zunächst in der Klasse gut aufgenommen wurde, war es für mich ein riesiger Schritt in eine neue Kultur, in der ich täglich Angst hatte, nicht mitzukommen. So nach und nach wurde dann auch mein Anderssein und mein Hintergrund offenbar, was ich nicht selbstbewusst vertrat im Gegensatz zu meinem Bruder Clemens – alle Achtung… Waren für mich zuvor in Kornwestheim die Schule und das Treffen mit meinen Freundinnen im Vordergrund meines Alltagerlebens, so wurde für mich nun das Gemeinschaftsleben mit all seinen Facetten der Schwerpunkt meiner Aufmerksamkeit, nämlich das, was mir wichtig war.